Am 18. April 1946 ereignete sich in der Lutherstadt Eisleben das bisher schwerste Eisenbahnunglück der gesamten Region. An diesem Tag stand um kurz nach 10:00 Uhr morgens der aus Halle an der Saale kommende Personenzug P592 unmittelbar vor dem Bahnhof Eisleben. Das Signal zeigte ROT und so war dem Zug die Einfahrt in den Bahnhof verboten. Der Zug war vollkommen überfüllt. Kriegsheimkehrer und Stadtbewohner, die auf dem Land Lebensmittel organisieren wollten, füllten die Gänge der Wagons und selbst auf den Trittbrettern standen Menschen. Heute ist das undenkbar, aber in der schweren Nachkriegszeit, in der praktisch an allem Mangel herrschte, waren solche Szenen alltäglich.
An diesem Apriltag herrschte nach Berichten von Augenzeugen außerordentlich dichter Nebel, so dass die Sicht stark eingeschränkt war. Dazu kamen Bauarbeiten im Bereich der Bahnstrecke zwischen Röblingen und Eisleben. Von den Fahrgästen und dem Bahnhofspersonal in Eisleben konnte allerdings niemand ahnen, welche Katastrophe unmittelbar bevorstand. Unmittelbar hinter dem Personenzug fuhr eine einzelne Lok, die zu dem Zeitpunkt dort so nicht unterwegs sein sollte. Um 10:11 Uhr fuhr diese Lok auf den Zug auf. Der letzte Wagon des Personenzuges wurde durch die Wucht des Aufpralls vollkommen zerstört. Der vorletzte Wagon wurde auf den drittletzten geschoben. Nur die vorderen Wagons blieben weitgehend unversehrt.
Da die Verkleidungen der Eisenbahnwagen damals zumeist aus Holz bestanden, zersplitterten die der letzten Wagen beim Aufprall. Die damals üblichen Holzbänke als Sitze wurden vielen Reisenden zum Verhängnis. Da sie sehr stabil gebaut waren, trennten Sie den darauf sitzenden Menschen beim Zusammenschieben der Wagen die Beine ab. Von den Personen, die auf den Trittbrettern standen, wurden viele zwischen den Wagons oder den Puffern eingeklemmt und zerquetscht. Nur die Mitreisenden der vorderen Wagons blieben unverletzt. Außer einem Schlag und dem Herunterfallen von Gepäckstücken aus den Ablagen hatten sie nicht einmal mitbekommen, welch grauen erregender Unfall sich im hinteren Bereich des Zuges ereignet hatte.
Kurze Zeit nach dem Unfall erschien ein Offizier der sowjetischen Besatzungsmacht an den vorderen Wagons und forderte die überraschten Fahrgäste auf, auszusteigen, ihm zu folgen und bei der Bergung der Verletzten zu helfen. Was die Fahrgäste dann sahen, war selbst unter den Verhältnissen dieser Zeit unvorstellbar. Neben dem Gleis hatte man angefangen, die ersten geborgenen Toten abzulegen. Dazu kamen die Hilferufe und Schmerzensschreie der noch eingeklemmten Verletzten. Die bereits geborgenen Verletzten hatte man notdürftig auf Tragen abgelegt oder hingesetzt. Vielen von ihnen hatten sich große Splitter der Holzverkleidung der Wagen in die Körper gebohrt. Andere hatten schwere Quetschungen oder regelrechte Abscherungen der Extremitäten erlitten. Zwischen den Puffern und Wagons hingen noch eingeklemmte Menschen.
Bis wirkliche Hilfe für die eingeklemmten Reisenden kam, sollte es noch einige Stunden dauern. Dann wurden Sie mit Hilfe von Schweissbrennern befreit und so gut es ging medizinisch versorgt. Insgesamt forderte dieses Eisenbahnunglück 23 Todesopfer, von denen 17 sofort starben und 6 später im Krankenhaus. Zwei der Todesopfer waren Kinder. 40 Reisende wurden verletzt. Das Unglück wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht und später der herrschenden Kaste der Nationalen Front der DDR um die moskauhörige SOZIALISTISCHE EINHEITSPARTEI DEUTSCHLANDS (SED) totgeschwiegen. Mindestens ein Verletzter klagte nach dem Unfall auf Übernahme seines Verdienstausfalles und der Heilkosten. Er hatte Glück im Unglück: Seine Verletzungen waren vergleichsweise harmlos – ein paar gebrochene Rippen. Die DEUTSCHE REICHSBAHN übernahm alle Kosten inklusive einer Kur und er wurde als vollständig geheilt und arbeitsfähig entlassen.
Welche Rolle Angehörige der SOWJETISCHEN MILITÄRADMINISTRATION SMAD beim Zustandekommen dieses Zugunglückes spielte, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Die dem Personenzug folgende Lok hätte planmäßig als Schiebelok an den Zug angekoppelt sein müssen, was aber nicht der Fall war. Der damalige Fahrdienstleiter des Bahnhofes von Helfta – das ist der letzte Bahnhof vor der Lutherstadt Eisleben von Halle an der Saale aus kommend – soll den Lokführer unmissverständlich aufgefordert haben, umgehend an den Zug P592 anzukuppeln. Zu diesem Zeitpunkt sollen sich bewaffnete Soldaten oder Offiziere der Sowjetarmee auf der Lok befunden haben. Außerdem wurde unter der Leitung der SOWJETISCHEN MILITÄRADMINISTRATION an den Gleisen im Bereich des Bahnhofes Helfta gebaut. Die deutschen Bahnbediensteten sollen von den Sowjets aber nur sehr schlecht über die Bauarbeiten informiert worden sein.
Nach einer Stellungnahme der DEUTSCHEN REICHSBAHN gegenüber dem Landgericht Merseburg vom 18.12.1946 hatte sich der Personenzug P592 vor der Einfahrt in den Bahnhof Eisleben zudem auf dem falschen Gleis befunden. Die REICHSBAHNDIREKTION HALLE schrieb damals: „Ursache des Eisenbahnunfalls Eisleben am 18.4.46 war das Auffahren der mit dem Personenzug nicht gekuppelt gewesenen Schiebelok 44081 auf den am Standort des Einfahrtsignales A des Bahnhofes Eisleben in km 36,9 der Bahnstrecke Halle – Sangerhausen auf dem falschen Gleis haltenden Personenzug 592.“ (Quelle: /1/).
Als hauptverantwortlich für das Unglück wurde der Führer der Schiebelok bezeichnet, denn er hatte es unterlassen, die ihm anvertraute Lok vorschriftsmäßig an den vorausfahrenden Personenzug anzukuppeln. Ebenfalls für schuldig wurden der Aufsichtsbeamte des Bahnhofes Röblingen sowie der Zugschaffner des Personenzuges befunden. Alle drei wurden von einem sowjetischen Militärgericht zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt und verschwanden irgendwo in einem der zahlreichen Gulags, die es auch in der SOWJETISCHEN Besatzungszone gab ((Es gab in der SOWJETISCHEN BESATZUNGSZONE nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 10 Speziallager, die im Amtsrussisch SPEZLAG hießen. Diese Lager wurden gemäß gemeinsamer Vereinbarungen mit den anderen Alliierten eingerichtet. Unter anderem wurde das ehemalige Konzentrationslager oder KZ Buchenwald als SPEZLAG weitergenutzt. Im Jahre 1950 wurden die Lager offiziell aufgelöst, was aber für die Inhaftierten nicht automatisch die Freilassung bedeutete. Etliche wurden in die Gulags der Sowjetunion überstellt. Die Sterblichkeit in den SPEZLAGERJA war sehr hoch und allein zwischen November 1946 bis Juni 1947 starben etwa 14.500 von 80.000 Internierten.)). Möglicherweise wurden die drei Eisenbahner aber auch sofort in ein sowjetisches Lager gebracht.
Das Aburteilen durch sowjetische Militärtribunale stellte bis 1947 die juristische Praxis in der SBZ dar. Grundlage für die Aburteilung war das Strafgesetzbuch der UdSSR aus dem Jahre 1926. Die Verfahren liefen definitiv nicht nach rechtsstaatlichen Grundsätzen ab, sondern es kam den Tribunalen darauf an, alle vermeintlichen Gegner des Sowjetregimes auszuschalten. Die Verurteilung erfolgte fast immer auf Grundlage des Paragraphen 58 des oben genannten Strafgesetzbuches, der die so genannten KONTERREVOLUTONÄREN VERBRECHEN und damit auch alle wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten abdeckte. Die Verfahren dauerten meist nicht länger als 20 Minuten und bedeuteten in der Regel für den Angeklagten eine Strafe von 25 Jahren Zwangsarbeit oder auch die Todesstrafe. Verteidiger, Entlastungszeugen und eine Berufung waren nicht zugelassen und die Schuld des Angeklagten musste nicht festgestellt werden.
Immerhin stellte sich die DEUTSCHE REICHSBAHN nach dem Zugunglück hinter ihre Bediensteten und schrieb: „Die besonderen Verhältnisse am Unfalltage – Gleisbau auf der Strecke Eisleben – Oberröblingen ((Hier ist der Ortsteil Oberröblingen von Röblingen am See gemeint, nicht zu verwechseln mit Oberröblingen südlich von Sangerhausen.)) unter russischer Kontrolle und in Verbindung damit eine gewisse Beeinflussung unserer Bediensteten in ihrer freien Willensäußerung bei der Ausführung ihrer dienstlichen Tätigkeit lassen die Verfehlungen aller am Unfall schuldigen Beteiligten in einem milden Licht erscheinen.“ (Quelle: /1/). Zu diesen Worten gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht kurz nach dem verlorenen Krieg gehörte damals schon ein gehöriger Mut. Das half den vom Militärgericht verurteilten Eisenbahnern allerdings nicht. Nur einer von ihnen soll lebend aus der Haft zurückgekommen sein – nach siebeneinhalb Jahren.
Quellen:
/1/ MITTELDEUTSCHE ZEITUNG
Regionalausgabe Eisleben und Hettstedt
18.04.2011
Redakteur MZ: Burkhard Zemlin