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Gerbstedt und die Fahne von Kriwoi Rog

Die folgende Geschichte soll sich in den Jahren zwischen 1929 und 1989 in der kleinen Stadt Gerbstedt im Herzen des Mansfelder Landes zugetragen haben. Was an der Geschichte der Fahne von Kriwoi Rog Wahrheit und was Legende ist, wird sich nach so vielen Jahren wohl nicht mehr feststellen lassen. Das Mansfelder Land war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eines der bedeutendsten wirtschaftlichen Zentren Deutschlands und Bergbau und Industrieproduktion liefen auf Hochtouren.

Die so genannten GOLDENEN ZWANZIGER JAHRE waren für die arbeitende Bevölkerung aber gar nicht so golden: Eine Währungsreform, hohe Reparationsforderungen der Entente-Mächte und eine handfeste Weltwirtschaftskrise waren eine hohe Belastung für die ohnehin hart arbeitenden Menschen. So ist es letztlich nicht verwunderlich, dass die breite Masse der Menschen Anfang der 30er Jahre praktisch in zwei große extreme Lager gespalten war: Nationalsozialisten und Kommunisten.

Obwohl die Arbeiter und Angestellten der Mansfeld AG in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht vergleichsweise privilegiert waren, war diese Zeit im Mansfelder Land geprägt durch Demonstrationen, bewaffnete Aufstände und Klassenkämpfe. Die Auseinandersetzungen mit den Arbeitern wurden immer wieder – teils auch blutig – niedergeschlagen.

Bild: Der Marktplatz von Gerbstedt mit dem Rathaus. Aufnahme aus dem Jahre 2008.

Im gleichen Zeitabschnitt fand in Russland eine radikale Revolution statt. Die Zarenfamilie wurde hingerichtet, jegliches industrielle und landwirtschaftliche Privateigentum auf brutale Weise enteignet und hunderttausende verschwanden auf nimmer Wiedersehen in sibirischen Gulags. Für die Menschen in Russland wurde praktisch eine Diktatur durch eine andere ersetzt. Dennoch muss die Oktoberrevolution eine magische Anziehungskraft auf die deutschen Kommunisten ausgeübt haben.

Jedenfalls kam es im Jahre 1927 zu einem Briefwechsel zwischen dem Sekretär der Betriebszelle der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) des Paul- und Vitzthum -Schachtes bei Gerbstedt, Otto Brosowski, und der Parteizentrale des Dzierdzynski-Schachtes im ukrainischen Kriwoi Rog. Es war sicher nicht nur die weltanschauliche Verbundenheit, die aus dem unverbindlichen Briefwechsel zweier Parteifunktionäre bald eine Freundschaft der Belegschaft zweier Schächte entstehen ließ. Das Arbeitsleben der Bergleute war hart und gefährlich und so hat sich über die Länder- und auch über gewisse ideologische Grenzen hinweg eine Art Freundschaft der Arbeiter beider Länder entwickelte.

Bild: Der Paul-Schacht, zeitweise Otto-Brosowski-Schacht, bei Gerbstedt im Mansfelder Land.

Im Jahre 1929 schickten die Kommunisten des ukrainischen Bergwerkes eine reich bestickte rote Fahne nach Gerbstedt. Am 21. April 1929 wurde die Fahne in der Gaststätte Lohmeyer in Gerbstedt vom kommunistischen Landtagsabgeordneten Karl Schulz aus Berlin-Neukölln feierlich an Otto Brosowski übergeben. Bereits am Vorabend fand ein Fackelumzug statt und der Tag der Fahnenübergabe wurde wie ein hoher Feiertag mit Platzkonzert, Demonstration und einer Abendveranstaltung begangen. Die Bergleute der Mansfelder Zechen erschienen zahlreich zur Fahnenübergabe und identifizierten sich auch in den folgenden Jahren mit dem Geschenk der Ukrainer. Auf allen Demonstrationen der nächsten Jahre wurde die Fahne von Kriwoi Rog mitgeführt.

Bild: Nach der Übergabe der Fahne von Kriwoi Rog in Gerbstedt.

Mittlerweile hatte sich das politische Klima in Deutschland deutlich zugunsten der extremen rechten Bewegung verschoben. Bei den Wahlen zum Reichstag 1928 wurde die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) zur zweitstärksten politischen Partei. Vier Jahre später wurde die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) des Österreichers Adolf Hitler mit über 37 Prozent der Wählerstimmen eine nicht mehr zu ignorierende Gruppierung. Die DNVP trat im Januar 1933 der Regierung um Adolf Hitler bei und löste sich wenig später auf.

Am 12. Februar 1933 überfielen SA- und SS-Angehörige auf Befehl des Ludolf von Alvensleben eine Arbeiterturnhalle in Eisleben. In dieser Turnhalle fand gerade eine Jugendweiheveranstaltung – von der Kommunistischen Partei Deutschlands organisiert – statt. Die Männer der SA und der SS gingen mit äußerster Brutalität – teils mit Spaten – gegen die Anwesenden vor. Walter Schneider und Otto Helm wurden erschlagen. Sie verstarben noch in der Turnhalle. Der Bergarbeiter Hans Seidel wurde schwer verletzt. Er verstarb am folgenden Tag im Knappschaftskrankenhaus in Eisleben.

Der zumindest in der DDR bekannte KPD-Funktionär Bernhard Koenen verlor ein Auge. Dieser als „Eislebener Blutsonntag“ in die Geschichte eingegangene Überfall forderte 3 Tote und 26 Schwerverletzte. Es war das erklärte Ziel der Mansfelder Nationalsozialisten, die Fahne von Kriwoi Rog in ihren Besitz zu bringen und auf dem historischen Marktplatz von Gerbstedt zu verbrennen. Die Familie Otto Brosowskis wurde von nun an mit Hausdurchsuchungen terrorisiert. Die Fahne aber blieb unauffindbar.

Der Überlieferung nach hatte die Frau Otto Brosowskis, Minna Brosowski, die Fahne zwischen zwei Tischtüchern eingenäht. Die nun etwas dickere Tischdecke lag – sauber gebügelt und ordentlich gestärkt – auf dem Tisch in der guten Stube der Brosowskis. Am 30. März 1933 wurde Otto Brosowski verhaftet und in das Konzentrationslager Lichtenburg bei Prettin an der Elbe eingewiesen. Während der Haft Otto Brosowskis wurde die Fahne durch Bekannte unter einem Grenzstein in der Ackerflur Gebstedts vergraben. Als Otto Brosowski nach einem Jahr aus der Haft entlassen wurde, renovierte er sofort seinen Kaninchenstall. Dabei fand die Fahne ein neues Versteck in der Nische einer für das Mansfelder Land so typischen dicken Lehmmauern.

Das bis dahin so erfolgreiche NS-Regime erlitt in der Schlacht um Stalingrad 1942/43 eine erste bittere Niederlage. Und spätestens mit der Landung der technisch überlegenen Amerikaner in der Normandie 1944 wurde klar, dass dieser Krieg für Deutschland nicht zu gewinnen war. Am 7. bzw. 9. Mai 1945 musste Deutschland, nach dem Selbstmord Adolf Hitlers von Großadmiral Karl Dönitz ((Großadmiral Karl Dönitz wurde von Adolf Hitler persönlich als Nachfolger bestimmt. Am 1. Mai 1945 bildete Dönitz eine provisorische Regierung mit Sitz in Flensburg. Am 7. Mai 1945 unterzeichnete General Jodl im Auftrag von Dönitz die Kapitulation in Reims und am 9. Mai Generalfeldmarschall Keitel die Kapitulation in Berlin-Karlshorst. Dönitz selbst war im Ersten Weltkrieg U-Boot-Kommandant. Er kannte deshalb die Schrecken des Krieges aus eigener Erfahrung. Auch sein persönlicher Preis im Zweiten Weltkrieg war hoch: seine drei Söhne fielen im Kampf. Dönitz’ Verdienst liegt darin, dass er sehr vielen zivilen Flüchtlingen aus dem Osten durch den Versuch, die Kapitulation hinauszuzögern, das Leben rettete. Großadmiral Karl Dönitz wurde nach dem Krieg zu 10 Jahren Haft in Spandau verurteilt. Nach seiner Entlassung 1956 lebte er in Aumühle bei Hamburg, wo er im Dezember 1980 im Alter von 89 Jahren verstarb.)) geführt, bedingungslos kapitulieren.

Das Mansfelder Land war mittlerweile von amerikanischen Truppen besetzt. Jeder männliche Erwachsene war automatisch verdächtig, ein Nazi zu sein. Jeder Bürgermeister eines noch so kleinen Dorfes wurde im Gefängnis „Zum Roten Ochsen“ in Halle an der Saale inhaftiert, in der Regel ohne Haftbefehl, rechtliche Grundlage und ordentliches Gerichtsverfahren. Besonders brutal wurden gefangen genommene Angehörige der Wehrmacht und natürlich auch der der SS – auch wenn sie schwer kriegsbeschädigt waren – behandelt.

Die Zeit der Amerikaner im Mansfelder Land war aber nur kurz, und gemäß der Beschlüsse des Abkommens von Jalta mussten sie das Territorium zu Gunsten der Russen wieder räumen. Im Mansfelder Land zog nun die Sowjetarmee ein. Beim Einmarsch in Gerbstedt wurde die Rote Armee von der Familie Brosowski empfangen, die Fahne von Kriwoi Rog haltend. Der Kunstmaler Karl Kothe hat diesen historischen Augenblick 1953 im Auftrag des Mansfeldkombinates in einem Gemälde festgehalten. Eine in Keramik gefasste Kopie des Bildes hing bis zur Wende in der Halle des Dessauer Hauptbahnhofes. Siehe dazu auch ((Bei den Recherchen zu diesem Artikel war es mir am Anfang unmöglich, Informationen über den Maler des Bildes zu finden. Auch in einem vom Mansfeld Kombinat herausgegebenen Buch über die Fahne von Kriwoi Rog aus dem Jahre 1989 war zwar das Bild abgedruckt, nicht aber ein Verweis auf den Künstler. Erst die heute in Spanien lebende Tochter des Malers Karl Kothe, Frau Dr. Julia Kothe de Carapeto, hat mir etwa 14 Tage nach der ersten Veröffentlichung des Artikels nähere Informationen zum Bild gegeben. An dieser Stelle möchte ich Frau Dr. Julia Kothe de Carapeto noch einmal herzlich für die überaus freundliche Unterstützung danken.)).

Bild: Die Familie Brosowski empfängt die sowjetischen Besatzer in Gerbstedt.
Ausschnitt aus einem Gemälde des Kunstmalers Karl Kothe (1913-1965) aus dem Jahre 1953.

Bild: Vorderseite der Fahne von Kriwoi Rog.

Bild: Rückseite der Fahne von Kriwoi Rog.

Interessant ist, dass es seit der Deutschen Wiedervereinigung auch andere Versionen von der Geschichte der Fahne von Kriwoi Rog gibt. Rudolf Brosowski, der Enkel Otto Brosowskis, sagte in einem Interview gegenüber einem Filmteam, dass die Übergabe der Fahne durch Minna Brosowski an die sowjetische Armee nicht stattgefunden habe. Vielmehr hätte sein Großvater die Fahne von Kriwoi Rog beim Einmarsch der Roten Armee aus einem Fenster im ersten Stock des Wohnhauses gehängt. Der sowjetische Kommandant nahm darauf hin Kontakt zur Familie Brosowski auf.

Alt eingesessene Gerbstädter erzählen die Geschichte der Fahne von Kriwoi Rog hingegen so: Otto Brosowski soll nur als Mitläufer der Kommunistischen Partei Deutschlands bekannt gewesen sein. Die Fahne wurde demnach eine gewisse Zeit im Haus einer leidenschaftlich kommunistisch gesinnten Familie versteckt, bis die Gefahr einer Entdeckung zu groß wurde. Da Otto Brosowski von offizieller Seite nicht im Verdacht stand, mit den Kommunisten zu sympathisieren, wurde er gebeten, die Fahne an sich zu nehmen. Die Bereitschaft dazu allein setzte aber in diesen Zeiten schon ein gewisses Maß an Courage voraus!

Was später als über die Rettung der Fahne von Kriwoi Rog verbreitet wurde, hat dann wohl eine ähnliche Eigendynamik erfahren, wie die Geschichte um die Rettung des Lenindenkmals von Eisleben. Wie auch beim Lenindenkmal gehen Legende und Wahrheit fließend ineinander über. Doch wie auch immer: In der DDR wurden die Fahne oder eigens angefertigte Duplikate immer wieder zu besonderen Anlässen hervorgeholt. Minna Brosowsk, ihr Sohn Otto Brosowski jun. und selbst ihr Enkel Rudolf Brosowski wurden häufig zu politischen Veranstaltungen geladen. Die Fahne von Kriwoi Rog erhielt 1964 einen Ehrenplatz im Museum für Deutsche Geschichte in Berlin.

Bild: Übergabe der Fahne von Kriwoi Rog an das Museum für Deutsche Geschichte in Berlin.

Die Geschichte der Fahne wurde 1960 durch Otto Gotsche in einem Buch und 1967 durch Kurt Maetzig in einem Film verewigt. Auch der bekannte Dichter Heiner Müller nahm sich 1960 in einem Kammerspiel des Themas an. Minna Brosowski erhielt 1964 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Kriwoi Rog. Zu Ehren Otto Brosowski wurde ein Schacht und im Jahre 1971 die Oberschule in Gerbstedt benannt. Die Otto-Brosowski-Oberschule existiert heute noch als Sekundarschule.

Sie trägt mittlerweile den Namen des Grafen Schenck von Stauffenberg. Wie in der Geschichte unseres westlichen Kulturkreises so oft: Ironie des Schicksals, wenn der treue Mitläufer eines totalitären Regimes plötzlich den eigenen Stand auf verlorenem Posten sieht und dann zum Helden wird ((Die heute weit verbreitete Vorstellung, dass es in der breiten Masse der deutschen Armee im Dritten Reich immer Überlegungen gab, Adolf Hitler auszuschalten, ist unhaltbar. Es gab nur eine geringe Zahl von Militärs, die bereit gewesen wären, sich für das deutsche Volk zu opfern. Stauffenberg und die Verschwörer des 20. Juli 1944 gehörten allesamt nicht dazu. Das nach dem 20 Juli 1944 mehr als 7000 Menschen hingerichtet wurden, ist dem allgemeinen Zwang des NS-Regimes alles und jeden zu verfolgen geschuldet – keinesfalls jedoch dem Ausmaß der Verschwörung um Hitler (Quelle: H. Eberle und M. Uhl: Das Buch Hitler – Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach 2005, ISBN 978-3-404-64219-9, S. 497).)). Der Otto-Brosowski-Schacht ist seit dem Ende des Kupferschieferbergbaues im Mansfelder Land Ende der 1960er Jahre nicht mehr in Betrieb. Die weithin sichtbare Kegelhalde – errichtet mit dem Schweiß der Mansfelder Bergleute – trägt heute wieder offiziell den Namen Paul-Schacht.

Bild: Hunt mit der Aufschrift DIE FAHNE VON KRIWOI ROG ALS LEUCHTENDES SYMBOL DER DEUTSCH-SOWJETISCHEN FREUNDSCHAFT. Exponat im Mansfeld-Museum in Hettstedt-Burgörner.
Bild © 2009 by Bert Ecke.

Die Fahne von Kriwoi Rog kam nach der gesellschaftlichen Wende 1989/1990 in das Magazin des Museums für Deutsche Geschichte. Vom 27. April bis zum 9. September 2007 war die restaurierte Fahne im Rahmen der Ausstellung „Farben der Geschichte – Flaggen und Fahnen“ im Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin zu sehen.

Bild: Großkundgebung zu Ehren der Fahne von Kriwoi Rog vor dem Rathaus der Stadt Gerbstedt in den 1970er Jahren.

Externe Links:
Die Fahne von Kriwoi Rog und Kurt Maetzig – DEFA STIFTUNG BERLIN
http://www.kurt-maetzig.de/Filmografie/filmografie.html#fahne
Die Parteienlandschaft in der Provinz Sachsen – FRIEDRICH EBERT STIFTUNG
http://www.fes.de/Magdeburg/pdf/d_1_7_5_8.pdf
Deutsches Historisches Museum Berlin (DHM) – AUSSTELLUNG FARBEN DER GESCHICHTE
http://www.dhm.de/ausstellungen/farben-der-geschichte/index.html

Weiterführende Filme:
Die Fahne von Kriwoi Rog
Regie: Kurt Maetzig
Darsteller: Erwin Geschonnek, Marga Legal, Manfred Krug und Eva-Maria Hagen
Produzent: DEFA 1967

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