Zuletzt geändert am 19. März 2013 von Birk Karsten Ecke
Der 18. Juli 2009 war ein rabenschwarzer Tag in der Geschichte des kleinen Ortes Nachterstedt, der unmittelbar an der nordöstlichen Abdachung des Harzes, zwischen Aschersleben und Quedlinburg liegt. Gegen 4:40 Uhr kam es zu einem folgenschweren Erdrutsch am Südufer des in einem Tagebaurestloch neu angelegten und in Flutung befindlichen Concordia-Sees. Ein etwa 350 Meter breiter und 150 Meter langer Landstreifen rutschte plötzlich in den Concordia-See. Ein zweistöckiges Einfamilienhaus, ein Teil eines Mehrfamilienhauses und ein Teil einer Straße sowie die Aussichtsplattform mit der Grubenbahn und dem Holzhaus stürzten in die Tiefe. Drei Menschen werden seitdem vermisst. Sie gelten als bei dem Erdrutsch ums Leben gekommen.
Die Tage nach dem Erdrutsch zeigten sehr deutlich, wie wir auch heute noch in unserer hochtechnisierten Welt den Naturgewalten ausgeliefert sind. Anfangs versuchte man noch, die Verschütteten zu bergen, aber selbst ein aus Brandenburg abkommandiertes Pionierbataillon der Bundeswehr musste vor dieser Aufgabe kapitulieren. Der damalige Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Dr. Wolfgang Böhmer, gab mit wirrem Haarschopf und selbst sichtlich verstört ein nichts sagendes Interview. Der Landrat – um Schadensbegrenzung bemüht – äußerte, dass dieser Erdrutsch völlig überraschend kam.
Die Anwohner der Unglücksstelle dürfen seit dem Erdrutsch ihre Häuser nicht mehr betreten. Sie wurden vorerst in Notunterkünften untergebracht. Das Gebiet am Südufer des Concordia Sees ist noch heute weiträumig abgesperrt. Auch das Nordufer des Sees darf nicht betreten werden werden, der Abenteuerspielplatz ist gesperrt und es herrscht Badeverbot am gesamten See. Die Marina darf nicht benutzt werden und auch das Ausflugsschiff hat seinen Betrieb eingestellt. Der wirtschaftliche Schaden dürfte beträchtlich sein.
Doch kam das Unglück am Concordia-See wirklich so überraschend? Bereits 1959, als der Braunkohlebergbau noch in vollem Gange war, kam es zu einem gewaltigem Erdrutsch. Damals wurde ein Bergarbeiter getötet und zwei Braunkohlebagger sowie ein Abraumzug zerstört. Das Unglück hatte seinerzeit weitreichende Konsequenzen für den Braunkohletagebau in der DDR. Zudem zeigen Bilder – vom Autor dieses Artikels im Juni 2005 aufgenommen – deutlich Sicherungsmaßnahmen durch Bodenverdichtung an der Halde 3 ganz in der Nähe des Erdrutsches vom Juli 2009.
An dieser Stelle sei mir ein kleiner Exkurs in die Geschichte des Ortes Nachterstedt gestattet. Ursprünglich war Nachterstedt ein Fischerdorf, denn an der Stelle des Concordia-Sees befand sich seit der Eiszeit ein großer See. Die Orte Frose, Nachterstedt, Wilsleben, Hargesdorf und Schadeleben lagen unmittelbar am Ufer diese Sees. Der historische See verlandete ab dem späten Mittelalter zusehends. 1446 ließ Bischof Burkhard III. von Halberstadt bei Gatersleben einen Damm errichten, um das Wasser des Flusses Selke für den See nutzbar zu machen.
Der Wasserspiegel stieg erneut an und die Verlandung konnte bis zum 16. Jahrhundert aufgehalten werden. Danach jedoch versumpfte der See unaufhaltsam. Der Preußenkönig Friedrich I. ließ zwischen 1703 und 1710 ein Grabensystem anlegen, mit dessen Hilfe der See trockengelegt wurde. Diente die Selke erst zum Füllen des Sees, so half sie jetzt beim Entwässern. Weil nun keine Fischerei mehr betrieben werden konnte, lebten die Nachterstedter vom Torfabbau.
1828 wurde unter dem ehemaligen See Braunkohle entdeckt. Die Kohle wurde zuerst unter Tage abgebaut, was aber große Probleme wegen des Grundwasserspiegels bereitete. 1853 wurde die Grube Concordia durch den Zusammenschluss mehrerer kleiner Betriebe gegründet. Ab 1856 wurde dann die Braunkohle im Tagebau abgebaut. Die folgenden Jahre waren Jahre des Aufschwunges für Nachterstedt. Die industrielle Revolution brachte einen Eisenbahnanschluss, eine Brikettfabrik und ein Elektrizitätswerk. Die Fördermengen stiegen rapide an, so dass Nachterstedt zwischen 1899 und 1905 der Braunkohletagebau mit der höchsten jährlichen Fördermenge in Preußen wurde. In dieser Zeit wurden jährlich bis zu 870000 Tonnen Braunkohle gefördert. Die Nachterstedter hatten aber auch ihren Preis für den technischen Fortschritt zu zahlen.
Ab 1928 musste Alt-Nachterstedt von seinen Bewohnern wegen des Braunkohlebergbaues verlassen werden. Nachterstedt wurde an seiner heutigen Stelle neu aufgebaut ((Nicht nur Alt-Nachterstedt wurde abgerissen. Die Menschen in Königsaue traf 1964 das gleiche Schicksal. Der Ort wurde als Neu-Königsaue wieder aufgebaut. Ein großer Teil der Leute von Königsaue wurde aber nach Aschersleben umgesiedelt.)). An Alt-Nachterstedt erinnert heute nur noch eine weithin sichtbare rote Boje auf dem Concordia-See, die sich an der Stelle des ehemaligen Kirchturmes befindet. 1991 wurde der Bergbau auf der Braunkohle eingestellt. Nachterstedt traf damit das gleiche Schicksal wie viele Orte im hoch industrialisierten Mitteldeutschland. Viele verloren dadurch ihren Arbeitsplatz. 1996 wurde dann der letzte Braunkohlebagger – eigentlich ein Denkmal der überragenden Industriekultur Mitteldeutschlands – durch Sprengung beseitigt.
Ende 1996 wurde die letzte Grundwasserpumpe im Tagebau-Restloch abgestellt. Die Flutung des Concordia-Sees, auch wieder mit dem Wasser der nahen Selke, begann. Im Sommer 2002 erreichte der Concordiasee eine Wasserfläche von etwa 300 Hektar. Mit einer Eröffnungsfeier am 17. August 2002 wurde der See offiziell für die wassertouristische Nutzung freigegeben, die nach dem Erdrutsch allerdings vorerst ein Ende gefunden hat.