Zuletzt geändert am 5. Juni 2022 von Birk Karsten Ecke
August Hermann Francke wurde am 22. März 1663 in Lübeck geboren. Er war einer der bekanntesten Vertreter des Pietismus in Mitteldeutschland. Sein Vater Johann Francke war Jurist und seine Mutter Anna Francke entstammte einer Patrizierfamilie. Im Jahre 1666 zog die Familie nach Gotha und Francke und besuchte dort 1676 für ein Jahr das Gymnasium. Die restliche Zeit wurde er privat unterrichtet. 1679 schrieb er sich als Student der Philosophie an der Universität zu Erfurt ein, wechselte er bald zum Studium der Theologie an die Universität Kiel. Francke kam damit in den Genuss eines von einem Onkel mütterlicherseits – er war Pastor – gestiftetes Stipendium. Francke muss zu dieser Zeit recht ruhelos gewesen sein, denn bereits 1882 ging er für kurze Zeit nach Hamburg zum Missionar Esdras Edzardus, der sich allen Ernstes der Lutheranisierung der Juden verschrieben hatte.
Danach folgten eineinhalb Jahre in Gotha, für die nicht belegt ist, was Francke in dieser Zeit machte. 1884 wechselte er an die Universität zu Leipzig und arbeitete gleichzeitig als Lehrer für hebräische Sprache bei einem ortsansässigen Theologen. Im Jahre 1685 legte er an der Universität zu Leipzig sein Magisterexamen ab. Francke gründete dort ein COLLEGIUM PHILOBIBLICUM – eine Art Verein zur Bibelforschung, die erst von Studenten und dann auch von Bürgern der Stadt Leipzig besucht wurde. August Hermann Francke zog im Jahre 1687 nach Lüneburg, um ein Praktikum bei dem Superintendenten Caspar Hermann Sandhagen anzutreten. Hier erlebte der religiöse Eiferer Francke – weshalb auch immer – eine tiefe Glaubenskrise, die angeblich durch ein Bekehrungserlebnis plötzlich beendet wurde.
Den Jahreswechsel 1688/1689 verbrachte Francke in Dresden. Hier freundete er sich mit dem sächsischen Oberhofprediger und Begründer des Pietismus Philipp Jacob Spener an. Diese Freundschaft sollte Francke später noch sehr zu Gute kommen. Danach ging Francke 1689 erst nach Leipzig und 1690 nach Erfurt, um Vorlesungen über die Auslegung der Bibel zu halten. Wo immer Francke auftauchte kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, die dazu führten, dass er als Sektierer bekannt wurde und ihm ein Vorlesungsverbot erteilt wurde. Francke wurde deshalb sowohl aus Leipzig als auch aus Erfurt ausgewiesen. Beide Städte gehörten zu Sachsen. Jetzt kam Francke seine Freundschaft mit Spener zu Gute. Spener – wegen unüberbrückbarer religiöser Differenzen mit Kurfürst Johann Georg III. von Sachsen auf die brandenburgisch-preußische Seite gewechselt – vermittelte Francke eine Stelle als außerordentlicher Professor an der Philosophischen Fakultät der Universität Halle an der Saale.
Hier im strengen und auf Effizienz bedachten Preußen sollte Francke voll und ganz in seinem Eifer aufgehen können – ohne dass ihn jemand wegen seines religiösen Eifers angreifen konnte. Auch in Halle an der Saale sorgte Francke mit seinen Vorlesungen für Aufruhr. Da Francke aber Freunde und Gönner in hohen preußischen Militärämtern und sogar bis hinauf um den Kreis des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. hatte, konnte ihm in der brandenburgisch-preußischen Stadt an der Saale nichts passieren. 1692 trat Francke eine Stelle als Prediger als Pfarrer in Glaucha, heute Stadtteil von Halle an der Saale, an. Diese Pfarrstelle hatte er bis 1715, als er an die Kirche St. Ulrich in Halle an der Saale berufen wurde, inne. Im Jahre 1694 heiratete Francke in Rammelburg Anna Magdalena Wurm, eine Tochter eine Gutsbesitzers.
Das Lebenswerk August Herrmann Franckes sind die Franckeschen Stiftungen An der Waisenhausmauer in Halle an der Saale. Vor Franckes geistigem Auge zeigte sich eine zunehmende geistige und moralische Verwahrlosung der Jugend auf, der er dringend entgegentreten musste. Während seiner Zeit als Pfarrer in Glaucha bei Halle begann er, Kindern aus armen Verhältnissen im Sinne von Bibelvorträgen und Stunden der Erbauung außerhalb der regulären Gottesdienste sein Weltbild nahezubringen. Als Belohnung gab es ein kostenloses Mittagessen in seinem Pfarrhaus. 1695 gründete er eine Armenschule, in denen Theologiestudenten unentgeltlich Unterricht erteilten. Diese Schule war ausschließlich aus Spenden finanziert. Aus welchem Grund auch immer hatte seine Schule bald einen so guten Ruf, dass reiche Bürger bald ihre Kinder gegen Zahlung eines Schulgeldes auf die Armenschule Franckes schickten.
Francke vertrat dabei rigoros die Ansicht, dass seine Erziehung wieder zunichte gemacht würde, wenn die Kinder jeden Nachmittag nach der Schule wieder in ihr soziales Umfeld und ihren mittellosen Familien zurückkehren würden. Francke fand es besser diese Kinder in einer Art Waisenhaus isoliert von ihren Eltern unterzubringen. Das erste Waisenhaus entstand im Jahre 1696 in Glaucha bei Halle. Bei allem religiösen Eifer war Francke geschäftstüchtig: Neben der Armenschule für Kinder mittelloser Eltern gründete er eine Lateinschule für Kinder von wohlhabenden Bürgern und eine Schule für Kinder aus dem Adelsstand. So kam Geld in die Kasse Franckes und zudem waren alle gesellschaftlichen Schichten sauber getrennt, womit die damaligen Ständeordnung nicht durchbrochen wurde.
Als die Schule in Glaucha zu klein wurde, begann Francke im Jahre 1698 am südlichen Stadtrand von Halle mit dem Bau eines großen Waisenhauses, heute an der Straße An der Waisenhausmauer und unweit des Elisabethkrankenhauses gelegen. Drei Jahre später konnte das neue Haus endgültig bezogen werden. Francke erhielt vom brandenburgisch-preußischen Landesherren weitgehende Privilegien wie etwa Steuerfreiheit. Francke konnte so innerhalb kurzer Zeit neben dem Waisenhaus eine wirtschaftliche Unternehmung mit Buchdruckerei, Buchhandlung und Cansteinsche Bibelanstalt gründen. Die Einkünfte kamen den Franckeschen Stiftungen zu Gute. Das Waisenhaus war weitgehend auf Selbstversorgung angelegt und der Unterricht wurde von Studenten abgehalten.
Der pädagogische Stil in Franckes Waisenhaus war durch Unterordnung, unbedingten Gehorsam, Gottesglaube und Erziehung zur Sparsamkeit geprägt – kurzum alles, was preußische Herrscher an ihren Untertanen über die nächsten zwei Jahrhunderte bis zum bitteren Untergang in den Schützengräben an der Westfont des Ersten Weltkrieges zu schätzten wussten. Spielen und das Lesen von weltlicher Literatur war den Kindern nicht erlaubt. Francke legitimierte wie legitimierte in seinen Anstalten auch die Prügelstrafe, und insofern unterschieden sich die Verhältnisse nicht von denen anderer Schulen.
Friedrich Wilhelm I., seit 1713 König in Preußen und bis heute als Soldatenkönig bekannt, besuchte im Jahre 1715 die Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale und war beeindruckt ((Friedrich Wilhelm I. war nach heutigen Moralmaßstäben ein Sadist, der seinen eigenen Sohn zwang, bei der Hinrichtung seines besten Freundes – des Leutnants Hans Hermann von Katte – anwesend zu sein. Grund für die Hinrichtung war ein Fluchtplan seine Sohnes, des späteren Königs Friedrich II. von Preußen, nach England zu gehen. Leutnant Katte war Mitwisser dieses Plans. Friedrich Wilhelm I. setzte sich mit der Hinrichtung des Leutnants Katte über zweifach gefälltes Urteil eines Kriegsgerichtes hinweg, das Katte wegen Fahnenflucht zu lebenslanger Festungshaft verurteilt hatte. Das Urteil des Militärgerichtes wurde von Friedrich Wilhelm I. höchstpersönlich gemäß „Allerhöchster Kabinettsorder“ kassiert und die Todesstrafe umgewandelt. Katte wurde am 1. November 1730 vor den Augen des jungen Friedrich II. enthauptet. Friedrich Wilhelm I. wollte auch seinen eigenen Sohn wegen Hochverrats hinrichten lassen, die Intervention verschiedener europäischer Herrscherhäuser konnte dies jedoch gerade noch verhindern.)). August Hermann Francke stand nun unter dem persönlichen Schutz des preußischen Königs, so dass ihn niemand mehr offen anfeinden konnte. Noch zu Franckes Lebzeiten wohnten über 2.000 Kinder in den Franckeschen Stiftungen, darunter auch Mädchen, denen hier ein Schulbildung nicht vorenthalten wurde. Bald jedoch verweigerten immer mehr als Lehrer tätige Studenten den Unterricht. Es begann unaufhaltsam das neue Zeitalter der Aufklärung, in dem neue Vorstellungen bezüglich einer „Zivilisation“ allmählich Fuß fassten und auch Menschenrechte thematisiert wurden.
Der bibeltreue Francke begann über die neuen Zustände allmählich zu kränkeln und zu altern. Am 8. Juni 1727 verstarb August Hermann Francke in Halle an der Saale. Unter dem neuen preußschen König Friedrich II. begann ab 1740 ein neues Zeitalter für die Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale. Friedrich II. – bis heute ein Mythos und für viele Menschen der Inbegriff eines Preußen – verachtete religiöse Eiferer. Er zwang die Franckeschen Stiftungen unter ihrem damaligen Leiter Gotthilf August Francke, Tanzunterricht, Fechtunterricht und diverse Kurse für Adelige einzuführen – und zwar per Kabinettsorder. In den Franckeschen Stiftungen war bisher jedes Privatvergnügen, wie etwa das Spielen oder Theatervorstellungen, verboten. Die Stiftungen waren bis dahin auf bedingungslose Frömmigkeit und Nutzwert eingerichtet.
Gotthilf August Francke, der Sohn von August Hermann Francke, und seine Nachfolger hatten sich in die Umsetzung der Kabinettsorder seiner Majestät zu fügen, denn König Friedrich II. von Preußen war ein Vertreter der Aufklärung und des Absolutismus. Sich zu fügen war die einzige Chance, als Anstalt und profitable Unternehmung nicht unterzugehen. Woanders hätte man schließlich auch nicht hingehen können. Trotz oder wegen ihres pietistischen Charakters hatten die Franckeschen Stiftungen immer noch regen Zulauf an Schülern, auch aus dem Ausland. Ein prominenter Schüler aus der Region war zum Beispiel im Jahre 1760 Gottfried August Bürger, der Dichter aus Molmerswende im Unterharz. Wegen des Zustromes an Schülern wurden die Franckeschen Stiftungen laufend erweitert.
Die Angehörigen eines Privatschülers hatten gegenüber den Franckeschen Stiftungen in Halle in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein hohes Schulgeld zu bezahlen. Es waren mindestens waren 180,- Taler pro Jahr fällig, die Summe konnte aber auch höher ausfallen, weil etwa Fechtunterricht oder Arztbesuche extra bezahlt werden mussten. Auch für die sonntägliche Kollekte – darauf legte man in den Franckeschen Stiftungen großen Wert – war regelmäßig Geld zu entrichten. So kamen schnell 300,- Taler pro Jahr für die Ausbildung zusammen. Das lohnte nur, wenn man sein Kind in gehobener Stellung sehen wollte und man selbst sehr wohlhabend war. Zum Vergleich: Ein Dorfpfarrer in der mitteldeutschen Provinz brachte es oft inklusive aller zuerkannten Pfründe nur auf ein Jahreseinkommen von etwa 160,- Taler. Ein Knecht auf einem Bauernhof bekam oft nur ein Zehntel des Gehaltes eines Pfarrers (Quelle: /1/).
Die folgenden zweihundert Jahre überstanden die Franckeschen Stiftungen ohne Probleme. In der Zeit des Nationalsozialismus passte man sich weitgehend an. Während der alliierten Bombenangriffe des Zweiten Weltkrieges wurden einige Gebäude beschädigt. Zu Zeiten der DDR wurden die Frackeschen Stiftungen verstaatlicht und teilweise von der Martin-Luther-Universität genutzt. Für den Erhalt des Bauensembles wurde nur wenig getan, sodass der Verfall – in Städten mit historischer Bausubstanz wie Halle damals oft zu sehen – nicht aufzuhalten war. Nach der politischen Wende in der DDR hat sich der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher – der berühmte Sohn der Stadt Halle an der Saale – persönlich für die Restaurierung der Franckeschen Stiftungen eingesetzt.